Wie dramatisch die Lage in Syrien nach dem Erdbeben ist und warum sich die Menschen von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen fühlen, erklärt der syrische Arzt Mouheb Kaddour.
Erst vier Tage nach dem Erdbeben schickte die UN Hilfe Idlib im Nordwesten Syriens. Der Chirurg Dr. Mouheb Kaddour spricht über die humanitäre Lage in der Region.
ZDF: Herr Kaddour, fast zwei Wochen sind seit dem schweren Erdbeben vergangen. Wie ist die Lage vor Ort?
Mouheb Kaddour: Wir haben bereits über zehn Jahre Krieg in Syrien hinter uns. Die medizinische Versorgung war ohnehin schon sehr fragil, jetzt hat das Erdbeben unsere schwache medizinische Infrastruktur weitgehend zerstört. Wir stehen im Grunde mit leeren Händen da.
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ZDF: Müssen Sie immer noch Verletzte des Erdbebens behandeln?
Kaddour: Ja, es gibt noch viele vernachlässigte Erdbebenopfer in den Zeltlagern. Viele haben Brüche oder Quetschungen, vor allem Beinbrüche, sodass die Betroffenen im Krankenhaus bleiben müssen.
Das Erdbeben ereignete sich nachts, die Menschen waren zu dieser Zeit in ihren Häusern, die über ihnen eingestürzt sind. Deswegen haben wir so viele Verletzte. Wir sind wirklich am Limit.
Es ist das schlimmste Erdbeben seit mindestens 900 Jahren in der türkisch-syrischen Grenzregion: Zehntausende Menschen werden im Schlaf verschüttet und sterben.
ZDF: Was fehlt Ihnen in Ihrem Krankenhaus, um die Opfer richtig zu versorgen?
Kaddour: Es wäre einfacher aufzuzählen, was nicht fehlt. Eigentlich haben wir nichts. Nach zwölf Jahren Bürgerkrieg fehlt es an allem. Wir brauchen medizinisches Gerät, Medizin, Treibstoff, um zu heizen, denn es ist sehr kalt hier.
Viele haben ihre Angehörigen verloren, ihre Eltern, ihre Söhne oder Töchter. Ich glaube, viele begreifen das noch nicht. Wie soll man das verarbeiten?
ZDF: Das klingt dramatisch …
Kaddour: Ja, aber leider haben die Vereinten Nationen und internationale NGOs Nordwest-Syrien vernachlässigt. Erst nach einer Woche kam ein Botschafter der UN zu einem Grenzübergang und hat sich entschuldigt für das Verhalten seiner Organisation. Wir sind noch immer allein. Nach dem Krieg, nach Corona und Cholera und jetzt diesem Erdbeben ist der Tod überall gegenwärtig.
Syriens Machthaber Assad hat zwei weitere Grenzübergänge zur Türkei öffnen lassen, es kommt langsam Hilfe ins Erdbebengebiet.
ZDF: Rechnen Sie noch damit, dass mehr Hilfe kommen wird?
Kaddour: Ich hoffe es, aber ich rechne nicht wirklich damit. Nach Nordwest-Syrien sind keine Rettungs- und Bergungsteams gekommen. Nicht ein einziges. Es gibt eine Goldene Regel: Die höchsten Chancen, aus den Trümmern gerettet zu werden, sind in den ersten Stunden nach einem Erdbeben. Doch in den ersten beiden Tagen nach dem Beben sind viele hier unter den Trümmern gestorben.
Es kam kein Team, um uns zu helfen. Wir sind gerade einmal 500 Ärzte für vier Millionen Menschen. Von den Vereinten Nationen, von der Europäischen Union oder internationalen NGOs sind wir enttäuscht.
ZDF: Nach all dem Leid - wie schaffen Sie es, weiter Kraft zu schöpfen? Was lässt Sie durchhalten?
Kaddour: Es geht um mein Land, um das syrische Volk. Und es ist meine Pflicht, zu helfen, ich erfülle meinen hippokratischen Eid. Ich hoffe, dass ich noch eine Weile weitermachen kann, aber ich fühle auch einen tiefen Schmerz in mir. Ich leide mit meinem Volk, mit meinen Nachbarn, ich habe selbst viele Freunde verloren.
Wir alle hier brauchen dringend Unterstützung. Das Erdbeben hat nur ein paar Minuten gedauert. Aber die seelischen Narben werden noch Jahre lang bleiben.
Viele Millionen Menschen in der Türkei und in Syrien haben bei den Erdbeben der letzten Woche ihr Dach über dem Kopf verloren.
ZDF: Was ist nun das Allerwichtigste?
Kaddour: Ich denke, internationale NGOs und die Vereinten Nationen müssen nach Nordwest-Syrien kommen, um zu sehen, wie es uns geht. Erst wer das Leid hier gesehen hat, kann es wirklich begreifen.
Die ganze Welt schaut im Moment auf Russland und die Ukraine. Uns hat man vergessen.
Das Interview führte Martina Morawietz von der ZDF-Redaktion frontal.
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