Wie wurde entschieden, welche Geiseln freigelassen werden? Wie könnten Szenarien für ein Kriegsende aussehen? Einschätzungen von Nahost-Experte Daniel Gerlach.
Für Nahost-Experte Daniel Gerlach ist klar: Arabische Staaten müssten nach dem Krieg Sicherheitsverantwortung für den Gazastreifen übernehmen, um dort eine palästinensische Verwaltung aufzubauen. 24.11.2023 | 3:15 min
ZDF: Herr Gerlach, was weiß man denn eigentlich konkret über das Abkommen? Wie wurde entschieden, welche Geiseln, welche Palästinenser freigelassen werden?
Daniel Gerlach: Also welche Palästinenser freigelassen werden, das haben, glaube ich, die Israelis maßgeblich selbst entschieden, weil sie natürlich auch nicht den Eindruck erwecken wollten, dass sie sich Bedingungen diktieren lassen.
Auffällig ist aber dabei, dass es sich hauptsächlich um Menschen handelt, die sich in sogenannter militärischer Verwaltungshaft befinden. Das heißt, die noch nicht verurteilt wurden und denen man auch noch keine Straftaten nachgewiesen hat, wie zum Beispiel einer der Fälle, der gerade eben im Beitrag vorkam. Da sind eben auch viele Minderjährige dabei und Frauen. Also man hat den Eindruck, dass man versucht hat, eine Symmetrie herzustellen.
24 verschleppte Geiseln sind im Rahmen des Geiselabkommens zwischen Israel und der Hamas freigekommen, darunter mehrere Deutsch-Israelis.24.11.2023 | 1:46 min
Auf der einen Seite werden Frauen und Kinder freigelassen. Auf der anderen Seite auch Frauen und Jugendliche, und wie man das jetzt arrangiert, das soll natürlich zeigen, dass das System funktioniert. Und deswegen werden die Geiseln offensichtlich nach und nach freigelassen und nicht alle auf einen Schlag. Das hat auch nach meinem Eindruck damit zu tun, dass die Hamas möchte, dass die Israelis sich über längere Zeit an die Waffenruhe halten beziehungsweise die Vermittler das möchten.
Und auf der anderen Seite auch, dass die Hamas natürlich ein Risiko eingeht in dem Moment, wo sie Geiseln freilässt. Dann führt sie natürlich auch die Israelis auf die Spur, wie sie genau mit den Geiseln verfährt, wo sie sich befunden haben und auch, wo sie sich selbst befindet. Und vor dieser Art von Aufklärung hat natürlich die Hamas Angst. Und deswegen findet dieser Prozess nach meinem Dafürhalten eben über Tage verteilt statt.
... ist Chefredakteur des Nahost-Fachmagazins "zenith" und Direktor der Denkfabrik Candid Foundation. Gerlach studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris.
ZDF: Macht dieses erste Abkommen jetzt Hoffnung auf mehr? Was glauben Sie, wie geht es weiter?
Gerlach: Ich denke, die israelische Regierung hat ja angekündigt, dass sie die militärische Operation fortsetzen wird, den Krieg fortsetzen wird - in welchem Ausmaß sie das tut, darauf kommt es an. Dass es wieder Gewalt geben wird, dass möglicherweise auch diese Waffenruhe gebrochen wird, daran habe ich eigentlich wenig Zweifel. Aber die Frage ist jetzt momentan das Ausmaß der Gewalt.
Auf der einen Seite das Versprechen zu halten, dass man den Krieg fortsetzt gegenüber der eigenen Bevölkerung und auf der anderen Seite aber eben das Ziel zu erreichen, die restlichen Geiseln zu befreien. Und auch die Unterhändler, die sich hier sehr eingesetzt haben, insbesondere Ägypten, Katar aber auch die Vereinigten Staaten, nicht komplett zu verprellen. Denn auch deren Unterstützung braucht man natürlich.
Sehen Sie das gesamte ZDF spezial zur Freilassung der ersten Geiseln hier:
Seit fast sieben Wochen herrscht Krieg zwischen Israel und der Hamas. Jetzt wurden erste Geiseln freigelassen - ein Hoffnungschimmer für die Menschen, die noch in den Händen der Hamas sind.24.11.2023 | 12:35 min
ZDF: Was wären denn mögliche Szenarien für ein Kriegsende?
Gerlach: Ich denke, man muss jetzt sehr pragmatisch denken, und man muss vor allem mal anfangen zu denken. Und ein Szenario könnte tatsächlich sein, dass verschiedene arabische Staaten, die sich schon konstruktiv gezeigt haben in dem Prozess bisher, vielleicht Verantwortung übernehmen, vielleicht Sicherheitsverantwortung übernehmen. Auch wenn das bisher noch ein Tabu ist.
Viele auf der arabischen Seite sagen: 'Wir werden auf keinen Fall hier das Aufräumen, was die Israelis zerstört haben.' Aber ich denke, das ist der einzige Weg, ein Sicherheitsarrangement zu finden für den Gazastreifen, eine palästinensische Verwaltung dort aufzubauen.
Und dafür braucht man die Unterstützung der Israelis und muss vor allem die Israelis davon überzeugen, dass die Zerstörung jetzt ein Ende haben muss. Das bedeutet nicht, dass sie die Hamas nicht verfolgen können.
Denn sonst wird die humanitäre Katastrophe nur fortgesetzt.
Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel gleicht die Region einem Pulverfass. Ein Frieden scheint weit weg. Alles zum Nahost-Konflikt hier im Ticker.