Hannovers OB zur Türkei-Wahl: Polarisierung auf "Maximum"

    Interview

    Hannovers OB zur Stichwahl:Onay: Polarisierung in Türkei "auf Maximum"

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    Vor der Stichwahl in der Türkei sieht Hannovers Oberbürgermeister Onay Amtsinhaber Erdogan klar im Vorteil. Die Gesellschaft sei gespalten, sagt er im ZDF-Interview.

    Mainz/Hannover, 26.05.2023: Gundula Gause im Gespräch mit Belit Onay
    Als Gründe dafür nennt der OB von Hannover Onay, dass die Opposition zersplittert sei und das Präsident Erdogan staatliche Ressourcen in seinem Wahlkampf einsetzen könne.27.05.2023 | 4:09 min
    In der ersten Runde hatte der türkische Präsident Erdogan die absolute Mehrheit knapp verpasst. Nun entscheidet sich in einer Stichwahl gegen den zweitplazierten Kemal Klicdaroglu, wer das Land künftig regieren wird. Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, der auch die türkische Staatsbürgerschaft hat, spricht im ZDF heute journal update über die unfairen Wahlkampfbedingungen für die türkische Opposition und erklärt, wieso die Lage in der Türkei weiterhin schwierig blieben wird.
    ZDFheute: Sie haben sich an der Stichwahl beteiligt, mit welchem Ausgang rechnen Sie?
    Belit Onay: Also ich glaube, wie auch beim ersten Wahlgang, dass es wirklich sehr knapp wird. Aber klar ist, gerade auch nach dem ersten Wahlgang, dass Erdogan doch der Favorit wohl ist - entgegen allen vorherigen Prognosen.
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    ZDFheute: Er geht als klarer Favorit ins Rennen, hat hier in Deutschland unter seinen Wählern überdurchschnittlichen Zuspruch. Ist das in einer Demokratie nicht auch zu respektieren?
    Onay: Also man muss sagen, die Wahl ist wohl größtenteils demokratisch gelaufen. Es gibt einige Hinweise auf Vorkommnisse in Wahllokalen, die auch weiter geprüft werden. Gleichzeitig muss man aber sagen, die Wahlkampfbedingungen, also die Präsenz in den Medien, der Apparat des Staates, der auch wie ein Partei-Apparat im Grunde agiert hat, haben doch zu Bedingungen geführt, die nicht wirklich als fair bezeichnet werden können. Erdogan hat damit natürlich die Nase vorn. Er kann auf viele Ressourcen des Staates zugreifen, die die Opposition so nicht hat. Insofern ist das schon eine Schieflage.
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    ZDFheute: Warum setzen denn eigentlich so viele Türken auf Erdogan? Selbst in den Erdbebengebieten, in denen die Menschen die Regierung Erdogan für das schlechte Management dieser Krise verantwortlich machen, hat Erdogan viele Unterstützer.
    Onay: Zum einen ist, glaube ich, die Faszination oder der Personenkult um Erdogan einfach sehr, sehr groß. Das muss man verstehen, dass die letzten 20 Jahre in der Türkei mit Höhen und eben auch vielen Tiefen eine starke Bindung an seine Person verursacht haben.

    Gerade die neu entstandene Mittelschicht sind Aufsteigerinnen und Aufsteiger aus den anatolischen Gebieten. Und da gibt es eine starke emotionale Bindung.

    Die türkische Gesellschaft ist sehr fragmentiert, also die religiöse, regionale, soziale Identität sind auch die politischen, ausschlaggebenden Faktoren und diese Bindung hat die AKP gut geschafft. Gleichzeitig ist die Opposition aber auch nicht wirklich überzeugend. Man muss sich klarmachen, das ist ein Sechser-Bündnis, wo auch schon im Wahlkampf immer wieder Brüche deutlich wurden. Und eben auch, glaube ich, viele Menschen einfach nicht darauf vertrauen, dass es auch nach der Wahl wirklich hält.
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    ZDFheute: Da müssen wir wohl von einem Wahlsieg Erdogans ausgehen. Wie geht es dann weiter mit der Türkei und was heißt das auch für deutsches Regierungshandeln gegenüber Ankara?
    Onay: Also die Situation in der Türkei wird weiterhin schwierig bleiben, vor allem wirtschaftlich. Das haben die letzten Monate und auch Jahre gezeigt. Und auch dieser Wahlkampf hat aus meiner Sicht doch schwere Spuren hinterlassen. Die Polarisierung ist wirklich auf einem Maximum angelangt. Wir sehen ja wirklich 50/50-Situation in der türkischen Gesellschaft, die fast unversöhnlich sich gegenübersteht.
    Und auch der Ton, beispielsweise gegenüber Geflüchteten ist wirklich sehr, sehr hart geworden. Auch die Opposition ist mittlerweile an dem Punkt, jetzt in der Stichwahl mit "Syrer raus" zu plakatieren. Auch der nationalistische Ton ist sehr, sehr scharf geworden und dominiert tatsächlich in diesem Wahlkampf.

    Dieser Wahlkampf wird wirklich längerfristige Spuren in der türkischen Gesellschaft und auch in der Politik hinterlassen.

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    ZDFheute: Wie sehen Sie denn die Zukunft der Türkei, sollte widererwartend Kilicdaroglu, der Kandidat der Opposition, gewinnen.
    Onay: Auch das wird, glaube ich, nicht ganz einfach werden. Zum einen ist der Staatsapparat, wie gesagt, seit 20 Jahren mittlerweile in AKP-Hand, damit auch viele Kader, viele Erdogan-treue Menschen in der Verwaltung. Insofern wird es ein harter Kampf auch für eine neue Führung, neue Spitze. Und gleichzeitig ist diese bereits angesprochene Bündnis-Situation sehr, sehr fragil.
    Das sind sechs Parteien, teilweise Kleinstparteien, die mit in diesem Bündnis sind und nicht wirklich auf einem Nenner, sondern der einzige gemeinsame Nenner ist, Erdogan soll weg, die AKP soll abgelöst werden. Wenn das vollzogen sein sollte, wird es schwierig sein und eben auch notwendig, vor allem auch eine gemeinsame Vision für das Land zu entwickeln. Also zurück zur Rechtsstaatlichkeit, zurück zu demokratischen Strukturen.
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