Ukrainischer Armee-Chef: "Krieg tritt in neue Phase ein"

    Exklusiv

    Syrskyj zum Kriegsverlauf:Interview: Was Kiews neuer Armeechef erwartet

    von Katrin Eigendorf und Jenifer Girke
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    Der Mangel an Munition sei eine seiner Hauptsorgen, sagt der neue Armeechef Syrskyj dem ZDF exklusiv. Technologie und die Einstellung seiner Armee seien für den Sieg entscheidend.

    Interview von Katrin Eigendorf mit Olexander Syrskyj
    Er sei Realist, sagt der neue Armeechef der Ukraine, Oleksandr Syrskyj. Ein Realist mit einer großen Aufgabe.09.02.2024 | 15:03 min
    Er ist der neue - Oleksandr Syrskyj, verheiratet, Vater von zwei Söhnen, 58 Jahre alt, geboren in der ehemaligen Sowjetunion. Und seit gestern: Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte. 
    Monatelang bemühte sich das ZDF um ein Gespräch mit Syrskyj, lange bevor seine neue Position publik wurde. Die Chancen waren ungewiss bis gering. Plötzlich kam spätabends ein Anruf, er wäre am nächsten Tag für ein Gespräch bereit, der genaue Ort müsse unbedingt geheim bleiben. Irgendwo im Osten der Ukraine hat ihn ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf getroffen, wenige Tage, bevor Präsident Selenskyj ihn als neuen Oberbefehlshaber offiziell vorstellte. Er spricht stolz über militärische Erfolge im Kampf gegen Russland, gibt aber auch zu: Momentan ist die Situation sehr angespannt.

    Ukrainischer Oberbefehlshaber: Russische Offensive "von hoher Intensität"

    Seit vier Monaten führe Russland eine "Offensive von hoher Intensität" - für die Ukraine hieße das eine Änderung der Strategie: "Die Situation zu diesem Zeitpunkt kann als schwierig eingestuft werden. Das heißt, der Feind rückt jetzt praktisch an der gesamten Front vor, und wir sind von offensiven Aktionen zur Verteidigung übergegangen", sagt Syrskyj. Besonders intensive Kämpfe fänden in Richtung Kupjansk statt:

    Der Feind hat um jeden Preis das Ziel gesetzt, Kupjansk zu erobern, und jeden Tag, von morgens bis abends, bis spät in die Nacht, stürmt er unsere Stellungen.

    Oleksander Syrskyj, ukrainischer Oberbefehlshaber

    "Aber in vier Monaten ist er in dieser Richtung nicht deutlich vorgerückt, auf etwa einen Kilometer. Gleichzeitig erlitt er wahnsinnige Personalverluste."
    Katrin Eigendorf | ZDF-Korrespondentin, in Kiew
    Selenskyi und Saluschnyj hätten sich zwar in einem "versöhnlichem Bild" gezeigt, in der Bevölkerung werde der Austausch des ukrainischen Armeechefs jedoch "sehr kritisch gesehen", so ZDF-Korrespondentin Katrin Eigendorf.09.02.2024 | 4:04 min
    Verteidigen und den Feind zurückdrängen, so die Strategie: "Der Zweck unserer Verteidigungsoperation besteht darin, die Streitkräfte des Feindes zu erschöpfen, ihm maximale Verluste zuzufügen und dabei unsere Befestigungsanlagen zu nutzen, unsere technischen Vorteile in Bezug auf die Verwendung der unbemannten Luftfahrzeuge, die Aufrechterhaltung der Verteidigungsgrenzen."

    Verteidigung Kiews - ein Erfolgsmodell

    Nicht weiter vordringen - das war auch das Ziel ganz zu Beginn des russischen Angriffs. Als Generaloberst führte Syrskyj 2022 die ukrainischen Truppen sowohl bei der Verteidigung von Kiew als auch bei der Gegenoffensive in der Region Charkiw an.
    Ausführlich und detailliert erzählt der Militär, wie seine Armee sich gegen Russland verteidigt hat und eine Einnahme der Hauptstadt verhindern konnte: "Die Strategie bestand darin, unsere Bemühungen effizient zu verteilen, die Richtung des Hauptschlags des Feindes zu bestimmen, mit unseren Reserven den Durchbruch zu verhindern, so weit wie möglich den äußeren Verteidigungsring zu verteidigen, um zu verhindern, dass die Hauptstadt zerstört wird und sich in etwas wie Bachmut verwandelt."
    Nico Lange zugeschaltet aus München
    Militärexperte Nico Lange erklärt, was der Tausch des ukrainischen Oberbefehlshabers für die Lage an der Front bedeuten kann.08.02.2024 | 1:48 min
    Für Syrskyj ein wichtiger Erfolg: "Der Feind hat mit einem solchen Verlauf der Ereignisse nicht gerechnet, hat damit nicht gerechnet, dass er solche Verluste hat. Dementsprechend waren alle seine Handlungen praktisch erfolglos."

    Syrskyj: Neue Phase des Kriegs durch neuere Waffen

    Syrskyj setzt vor allem auf die Qualität des Kampfes und der Waffen: "Wir haben hervorragende westliche Waffen, die beispielsweise russische Modelle übertreffen. Da haben wir unsere Vorteile. Wir bauen eine starke Verteidigung auf und nutzen dabei Befestigungsanlagen, Gebäude, besondere Merkmale der Landschaft und des Territoriums, wir kombinieren verschiedene Waffentypen."
    Vor allem technologisch neuere Waffentypen, darunter Drohnen - ihr Einsatz nehme von Tag zu Tag zu. Und: "Der Einsatz von bodengestützten Roboterplattformen, der Einsatz von Modulen, die ferngesteuert werden, ermöglichen es nicht nur, das Leben unserer Mitarbeiter zu retten.

    Das heißt, der Krieg tritt in eine neue Phase ein.

    Oleksander Syrskyj, ukrainischer Oberbefehlshaber

    Anne Brühl live zugeschaltet aus Kiew
    ZDF-Reporterin Anne Brühl mit einer Einschätzung zur Entlassung von Oberbefehlshaber Walerji Saluschnyj aus Kiew.08.02.2024 | 6:12 min

    Syrskyj: Ein Realist mit einer großen Aufgabe

    Ob die Ukraine gewinnen wird oder nicht - für den Oberbefehlshaber auch eine Frage der Motivation: "In erster Linie hängt es von der Geistesstärke und Belastbarkeit unserer Mitarbeiter ab. Sie haben es mehrmals gezeigt, nicht nur einmal."

    Sie haben der ganzen Welt gezeigt, dass wir den Feind besiegen können und müssen.

    Oleksander Syrskyj, ukrainischer Oberbefehlshaber

    Damit sie das schaffen, lautet sein Appell: Waffen liefern und Waffen produzieren: "Es ist nicht nur ein Krieg von Menschen, sondern von allen unseren Volkswirtschaften. Und hier sollte uns auch die westliche Wirtschaft helfen, denn wir, wir kämpfen und nutzen das Wertvollste, was es gibt - unsere Menschen. Sie ist die Blume unserer Nation. Was könnte wertvoller sein? Deshalb brauchen wir natürlich Hilfe, denn wenn nicht wir, dann wird es ein anderes Land sein. Dieser Vorgang kann nicht gestoppt werden. Ich denke, unsere Partner verstehen das."
    Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in seinem Büro während eines Interviews mit Katrin Eigendorf
    Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko warnt, Russland könne auch Nato-Länder angreifen. Und er gibt zu, seit Kriegsbeginn nicht mit Präsident Selenskyj gesprochen zu haben. 06.02.2024 | 22:50 min
    2022 wurde Syrskyj als "Held der Ukraine" ausgezeichnet, die höchste Auszeichnung des Landes. Als Held würde er sich nicht bezeichnen, er sei Realist. Ein Realist mit einer großen Aufgabe. Und einer schwierigen: Die Absetzung seines Vorgängers Saluschnyj trifft nicht nur auf Zustimmung in der Gesellschaft. Walerij Saluschnyj ist sehr beliebt und gilt als wichtiger Motivator für die Soldaten. Deren Bereitschaft und damit die Siegeschancen der Ukraine liegen nun auch in den Händen von Oleksander Syrskyj.
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