Wie Putins Krieg in der Ukraine die Nato verändert hat

    Ein Jahr Angriff auf Ukraine:Wie Putins Krieg die Nato verändert hat

    Florian Neuhann
    von Florian Neuhann
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    Wohl keine andere westliche Organisation hat sich durch Russlands Krieg gegen die Ukraine so verändert wie die Nato. Eine Bestandsaufnahme nach einem Jahr.

    Nato-Flagge als Symbolbild
    Die Nato im Wandel
    Quelle: epa

    Es gibt Momente in diesem Kriegsjahr, da wundern sich hochrangige Vertreter der Nato selbst: Wie sehr plötzlich der Fokus auf ihrer Organisation liegt. Und sie erinnern sich daran, wie anders das noch Monate vor Beginn des Kriegs war.
    Nach dem gescheiterten, überhasteten Abzug aus Afghanistan - nach Jahren, in denen sie wahlweise für "obsolet" (Donald Trump) oder "hirntot" (Emmanuel Macron) erklärt worden war.

    Eine Bestandsaufnahme in fünf Punkten:

    1. Die Nato als Auslaufmodell?

    Mitte Mai, die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat zu einem Außenministertreffen nach Berlin geladen. Auf der anschließenden Pressekonferenz beschreibt sie selbst diesen Wandel: Jahrelang sei die Nato auch in Deutschland als "überholtes Auslaufmodell" gesehen worden, sagt Baerbock. Nun erlebe man "auf die brutalste Weise, warum es die Nato, eine Sicherheits- und Verteidigungsunion, braucht".
    Das Wort "Auslaufmodell" hat ausgedient. Genauso wie das Schlagwort der europäischen "Autonomie", das der französische Präsident Emmanuel Macron nur noch selten in den Mund nimmt. Bester Beleg ist die Kooperationsvereinbarung, die EU und Nato Anfang 2023 unterschreiben. Darin heißt es: "Die Nato bleibt die Grundlage kollektiver Verteidigung (…) und entscheidend für die euro-atlantische Sicherheit."
    Oder anders: Wenn es hart auf hart kommt, verlässt Europa sich auf die Nato. Und damit auf den wichtigsten Nato-Partner - die USA.
    Grafik. NATO-Logo vor amerikanischem Flugzeugträger und Kampfhubschrauber.
    Krieg mitten in Europa: Die Nato gerät unter Zugzwang. Wie schlagkräftig und geschlossen ist das Bündnis angesichts der neuen Herausforderungen?19.12.2022 | 44:05 min

    2. Aufrüstung der Nato

    Der Krieg im Osten verleiht der alten Allianz eine neue Attraktivität. Er sorgt für eine historische Zeitenwende in Nordeuropa, wo Schweden und Finnland ihre jahrzehntelange Tradition der Neutralität über Bord werfen und der Nato beitreten wollen.
    Und er sorgt für eine beispiellose Aufrüstung der Nato - zur Verteidigung wohlgemerkt, nicht zum Angriff. Auf dem Nato-Gipfel in Madrid beschließen die Staats- und Regierungschefs, dass die schnelle Eingreiftruppe von bisher 40.000 Soldaten auf 300.000 fast verachtfacht werden soll. Zusätzliche Brigaden, etwa aus Deutschland, sollen bereitstehen, um im Fall eines Angriffs östliche Bündnispartner schnell schützen zu können.
    Das alte Konzept eines "Stolperdrahts", der russische Truppen im Osten nur ein wenig aufhalten soll, hat ausgedient - jetzt soll das Bollwerk direkt an der Grenze stehen. So wie es US-Präsident Joe Biden dieser Tage in Warschau formuliert "Wir werden jeden Zentimeter des Nato-Territoriums verteidigen!"

    3. Alte Probleme mit Waffen und Munition

    Doch so reibungslos, wie es nach außen dargestellt wird, funktioniert die Zeitenwende der Nato nicht. Schonungslos legt die neue Bedrohungslage alte Probleme der Allianz offen.
    Klar: Niemand hatte ahnen können, dass alte Panzer einmal wieder gefragt sein würden. Doch als alte und neue Panzer plötzlich gebraucht werden, stellt man vielerorts fest: viele der Geräte mögen zwar in Statistiken auftauchen. Doch de facto sind sie gar nicht einsatzbereit.
    Und dann zeigt sich noch, dass trotz allem Gerede von Nato-Standards in manchen Fällen nicht einmal die Munition "interoperabel" ist. Was in den Waffensystemen des einen Nato-Landes funktioniert, kann nicht in denen anderer Länder verwendet werden. Und was jetzt an Munition bestellt wird, so berichtet jüngst Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wird frühestens in zwei Jahren geliefert. Die Nato muss aufholen, was über Jahre versäumt wurde.
    Zu wenig Munition, zu wenig Panzer
    Bei der Pressekonferenz des Nato-Treffens zum Ukraine-Krieg spricht Generalsekretär Jens Stoltenberg über fehlende Munition und Panzer.14.02.2023 | 12:17 min

    4. Abgrenzung: Keine Kriegspartei werden

    Über allem steht in diesem Kriegsjahr für die Nato eine Grenzlinie. Ja, die Nato ergreift Partei in diesem Krieg - aber sie will keinesfalls Kriegspartei werden. Keine Flugverbotszone über der Ukraine, keine Bodentruppen in der Ukraine: Die Grenze steht, im Gegensatz zu manch anderer roten Linie.
    Ohnehin aber erklärt die Nato in diesem Kriegsjahr immer wieder, dass es ja nicht die Allianz sei, die sich um Waffen für die Ukraine kümmere. Anfangs noch wird penibel auf diese Trennung geachtet: Über Waffenlieferungen redet man im Rahmen der von den USA geführten "Ukraine-Kontakt-Gruppe".
    Doch diese Grenze verschwimmt im Laufe des Jahres zunehmend. Am Ende nimmt sie nicht einmal der Nato-Generalsekretär noch ernst, der jeden seiner Auftritte nutzt, um für mehr Tempo bei den Waffenlieferungen zu werben. In der Öffentlichkeit ist es längst die Nato, die die Waffen liefert.

    5. Ausblick: Die Stärke der Nato ist zerbrechlich

    Die Veränderung, die die Nato in diesem Jahr durchgemacht hat, dürfte nicht von kurzer Dauer sein. Das "Strategische Konzept", das die Nato im vergangenen Sommer auf dem Gipfel von Madrid beschlossen hat, soll im besten Fall für ein ganzes Jahrzehnt gelten. Es ist das Dokument einer Rückbesinnung auf den eigentlichen Zweck der Nato: gemeinsame Verteidigung und Abschreckung.
    Dabei profitiert der europäische Teil der Nato von einer beispiellosen Hinwendung der US-Regierung auf ihren Kontinent. Wohl kein US-Präsident der vergangenen Jahrzehnte hat der Sicherheit in Europa so viel Geld und Aufmerksamkeit gespendet wie der Demokrat Joe Biden.
    Was aber, wenn sich die Machtverhältnisse in den USA wieder ändern sollten?
    Es ist der türkische Präsident Erdogan, der der Nato dieser Tage etwas Entscheidendes vor Augen führt: In einer Allianz, die alles einstimmig entscheiden muss, kann ein Quertreiber alles zunichtemachen. Oder anders: Die neue Stärke der Nato ist zerbrechlich.

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    :Die Nato

    Die 1949 gegründete Nato ist das westliche Militärbündnis. Vom Verteidigungsbündnis ist sie zum strategischen Militärakteur geworden, der auch ohne Verteidigungsfall eingreift.
    Das Logo der Nato. Symbolbild.
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