Israels Ex-Außenminister zwischen Vergeltung und Diplomatie
Interview
Ex-Außenminister Israels:"Es war Netanjahu, der Hamas gestärkt hat"
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Jossi Beilin war ein Architekt des Oslo-Friedensabkommens. Jetzt ist er für die Bodenoffensive, gibt die Hoffnung auf Frieden zwischen Israelis und Palästinensern aber nicht auf.
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ZDFheute: Herr Beilin, jahrzehntelang haben Sie sich als Politiker für den Frieden eingesetzt und für die Zwei-Staaten-Lösung gekämpft. Mehr als eine Woche nach den Terror-Anschlägen der Hamas: Wie blicken Sie auf die Lage?
Jossi Beilin: Ich kann nicht viel sagen, es ist immer noch schrecklich. Verrückt. Schwarzer Schwan, was auch immer Sie verwenden können, um etwas zu beschreiben, mit dem Sie überhaupt nicht gerechnet haben. Es ist wirklich unglaublich.
Ich meine, ich war die ganzen Jahre gegen eine Bodenoffensive wegen des Preises für beide Seiten. Aber wenn ich jetzt danach gefragt werde und weiß, was die Hamas-Jugend getan hat, habe ich keine andere Antwort. Ich habe keine bessere Antwort und weiß, dass eine Antwort gegeben werden muss.
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ZDFheute: Vor 30 Jahren wurde das Oslo-Friedensabkommen zwischen Israelis und Palästinensern im Weißen Haus mit einem historischen Händedruck zwischen Israels Premier Jitzchak Rabin und PLO-Chef Jassir Arafat besiegelt. Liegt die Hoffnung von damals jetzt in Trümmern?
Beilin: Oslo war ein Interimsabkommen, das für fünf Jahre gelten sollte. Es hätte am 4. Mai 1999 enden sollen. Jetzt darüber zu sprechen, als wäre es zerschlagen, zerrissen oder nicht beachtet, das wäre nicht richtig. Ich meine, wer wollte, dass dieses Abkommen 30 Jahre lang gültig ist?
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Hätte man mir das vor 30 Jahren gesagt, hätte ich gesagt: Sie sind verrückt. Es ist also schlecht, dass es immer noch gilt. Wir haben immer noch alle Institutionen in der Westbank. Natürlich nicht in Gaza, dort haben sie es nie akzeptiert. Hamas hat das Osloer Abkommen und eine Zwei-Staaten-Lösung natürlich nie akzeptiert..
Sie wollen nichts als unsere Vernichtung und wir werden nicht aufgeben. Also, Oslo gilt leider immer noch. Eine Übergangslösung, die dauerhaft wurde.
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ZDFheute: Wenn man überhaupt schon darüber reden kann, haben Sie ein Szenario, wie es weitergehen könnte?
Beilin: Ich hoffe, dass nach dem Krieg die palästinensische Regierung in den Gazastreifen zurückkehren wird, nicht die aktuelle, schreckliche. Das wird die Bürger und Bewohner Gazas befreien, die unter der Diktatur der Hamas leiden, religiöser Art und anderweitig. Und dann sollte es natürlich in Israel eine andere Regierung geben.
Sie wird zurücktreten müssen, auch wenn sie es jetzt noch nicht weiß. Und die neue Regierung, hoffentlich eine Mitte-Links-Regierung, wird sich mit der PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation Anm. der Redaktion) zusammensetzen und ein Abkommen beschließen, das aus Oslo hervorgeht. Aber es wird nicht das Osloer Abkommen sein, das, wie Sie wissen, nichts mit einem dauerhaften Abkommen zu tun hat. Wir wissen jetzt schon, besser als je zuvor, wie ein dauerhaftes Abkommen aussieht.
Quelle: picture alliance / Stefanie Järkel / dpa
Josef "Jossi" Beilin, Jahrgang 1948, war in der Regierung von Ministerpräsident Jitzchak Rabin stellvertretender Außenminister. Nach dessen Ermordung 1995 wurde Beilin Außenminister. Er war ein enger Vertrauter von Ministerpräsident Schimon Peres. Beilin setzt sich bis heute für den Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein.
ZDFheute: Hat Premier Netanjahu versagt?
Beilin: Ja, kein Zweifel, niemand zweifelt daran. Ich hoffe, nicht einmal er selbst. Es ist ein riesiges Versagen, etwas, an das man sich für immer erinnern wird. Sich zu brüsten und zu sagen, ich bin Mister Sicherheit, ist Quatsch. Es war Netanjahu, der die Hamas gestärkt hat. Nicht unterstützt, natürlich. Aber zwischen PLO und Hamas hat er immer die Hamas bevorzugt, weil sie keine Zwei-Staaten-Lösung will.
Die Hamas fordert keine Teilung des Landes, sondern das ganze Land. Deshalb war es einfacher, mit ihnen zu arbeiten als mit der "Nationalen Bewegung", die eine Teilung des Landes fordert und eine Zwei-Staaten-Lösung anstrebt.
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Beilin: Je mehr, desto besser. Ich würde gerne sehen, wie Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt in die Region kommen, mit der israelischen Führung sprechen, mit der palästinensischen Führung sprechen und versuchen, darüber nachzudenken, was am nächsten Morgen hier passieren soll.
Was wird dann passieren? Israel wird nicht in Gaza bleiben, wird nicht nach Gaza zurückkehren und es regieren. Ich hoffe, dass niemand ernsthaft darüber nachdenkt.
Die Frage ist also: Wer wird das tun? Ist es die PLO? Eine internationale Treuhandschaft, eine UN-Treuhandschaft? Wird es etwas sein, das mit der Arabischen Liga verbunden ist? Einer anderen Gruppe von Staaten, die bereit sein wird, es für eine Weile, für ein halbes Jahr, für ein ganzes Jahr auf sich zu nehmen, um es dann der PLO zu übergeben? Das ist nun die ganz, ganz wichtige Frage.
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von Britta Spiekermann
ZDFheute: Ist die deutsche Nahost-Politik gescheitert, wenn man von einer solchen sprechen kann?
Beilin: Ich kann nicht sagen, dass die deutsche Nahost-Politik gescheitert ist. Ich meine, der Fehler liegt in der Region. Die Haltung der deutschen Regierungen war historisch gesehen aufgrund der besonderen Beziehung zwischen Israel und Deutschland sehr vorsichtig. Sie haben die Pläne also nicht initiiert.
Sie unterstützten Pläne, auf die sich beide Seiten geeinigt hatten, sogar informell wie unsere Genfer Initiative und andere Dinge. Aber sie sagten nicht zu beiden Seiten: "Ihr müsst zusammenkommen und jetzt verhandeln."
Es besteht also eine Art asymmetrisches Verhältnis zwischen der Macht Deutschlands in der Welt und insbesondere in Europa und seiner Bereitschaft, sich in unserem Fall zu engagieren. Und ich kann es verstehen. Ich gebe Deutschland keine Schuld.
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ZDFheute: Was sind jetzt Ihre Befürchtungen?
Beilin: Ich bete wirklich, dass der menschliche Preis auf beiden Seiten nicht hoch sein wird, aber es wird einen solchen Preis geben und Menschen getötet werden. Und es ist schrecklich. Was für eine Eskalation soll und wird es mit sich bringen? Aber Sie wissen, dass manche schlimmen Dinge jenseits aller Vorstellungskraft liegen.
Das Interview führte Britta Spiekermann aus dem ZDF-Hauptstadtstudio.
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