Nahost: Ist der Apartheid-Vorwurf gegen Israel berechtigt?

    Palästinenser-Gebiete:Apartheid: Vorwurf gegen Israel berechtigt?

    Samuel Kirsch
    von Samuel Kirsch
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    Die palästinensische Seite wirft Israel "Apartheid" in besetzten Gebieten vor, zuletzt vor dem Internationalen Gerichtshof. Was bedeutet Apartheid und ist der Vorwurf berechtigt?

    President Donoghue and other judges, during a ruling by the International Court of Justice (ICJ) in The Hague, The Netherlands, on a request by South Africa for emergency measures for Gaza, 26 January 2024.
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    Straßen mit getrennten Spuren für Israelis und Palästinenser, Ausgangssperren und Einschränkungen der Reisefreiheit für Palästinenser - es sind Maßnahmen wie diese, mit denen Israel in den besetzten Palästinenser-Gebieten die palästinensische Bevölkerung anders behandelt als Israelis, die sich dort angesiedelt haben. Zum Schutz der israelischen Bevölkerung, sagt Israel, um Palästinenser systematisch zu unterdrücken, meint die palästinensische Seite.
    "Apartheid" warf der palästinensische Außenminister Riyad al-Maliki Israel deswegen auch bei einer Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof in der vergangenen Woche vor. Das UN-Gericht in Den Haag soll auf Grundlage eines Beschlusses der UN-Vollversammlung völkerrechtliche Fragen rund um die besetzten palästinensischen Gebiete in einem Gutachten klären. Heute enden die Anhörungen.
    Der Vorwurf der Apartheid ist nicht neu, er wird von palästinensischer Seite, aber auch von Menschenrechtsorganisationen, seit Jahren erhoben.

    Was bedeutet Apartheid?

    Der Begriff ist eng verbunden mit der Geschichte Südafrikas. Dort installierten die europäischstämmigen Buren im 20. Jahrhundert ein System der Rassentrennung, bei dem Menschen anhand ihrer Hautfarbe in Gruppen aufgeteilt wurden. Nicht-weiße Südafrikaner wurden durch offizielle Gesetze in vielerlei Hinsicht diskriminiert, durften etwa nicht wählen. Auf Grundlage dieser Erfahrung hat sich Apartheid auch zu einem völkerrechtlichen Rechtsbegriff entwickelt.
    11.01.24: Nazan Gökdemir spricht mit Stefan Talmon
    "Völkermord setzt eine Zerstörungsabsicht voraus, die hier meiner Meinung nach nicht vorliegt", sagt Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn, zur Völkermord-Klage gegen Israel.12.01.2024 | 4:59 min
    Im Kern geht es bei Apartheid um die Unterdrückung einer nach "rassischen" - so die Anti-Apartheids-Konvention - Kriterien definierten Gruppe, etwa indem es ihren Mitgliedern verwehrt wird, am politischen, sozialen, kulturellen oder wirtschaftlichen Leben in einem Land teilzunehmen. Ein anderes Beispiel: das Schaffen von Ghettos oder die Enteignung von Landeigentümern, um die Bevölkerung anhand rassistischer Merkmale zu spalten.

    Apartheid - Verbrechen gegen die Menschlichkeit

    Ähnlich wie beim Genozid-Tatbestand ist auch bei der Apartheid entscheidend, zu welchem Zweck die Unterdrückung erfolgt. Sie muss darauf ausgerichtet sein, die Herrschaft einer "rassischen" Gruppe über eine andere solche Gruppe zu errichten oder aufrechtzuerhalten.
    Das Apartheid-Verbot gilt als zwingendes Völkergewohnheitsrecht. Alle Staaten müssen sich daran halten. Außerdem ist Apartheid ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Völkerstrafrecht. Damit können auch Einzelpersonen wegen Apartheid bestraft werden.

    Seit 1967, dem Ende des Sechs-Tage-Kriegs, besetzt Israel Teile Palästinas, darunter das Westjordanland und Ostjerusalem. Auch der Gazastreifen ist nach Einstufung Deutschlands und anderer Staaten nach wie vor besetztes Gebiet, auch wenn Israel dort bis zum Terror-Angriff der Hamas im Oktober 2023 nicht präsent war, sondern lediglich die Grenzen kontrolliert hat.

    Quelle: ZDF

    Wie ist die Situation in Nahost zu bewerten?

    Der Bonner Professor für Völkerrecht, Stefan Talmon, bewertet die Lage in Nahost so:

    Es gibt gute Gründe, die dafürsprechen, dass Elemente des Apartheidtatbestandes vorliegen, aber auch gute Gründe, dass der Fall in den besetzten palästinensischen Gebieten anders gelagert ist.

    Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn

    Ein Unterschied etwa zum Apartheid-Regime in Südafrika liege darin, dass die Ungleichbehandlung von Palästinensern nicht innerhalb Israels stattfindet, sondern Israel als Besatzungsmacht handele. In einer Besatzungssituation dürfe der Besatzer die Angehörigen der Besatzungsmacht grundsätzlich anders behandeln als die Bevölkerung des besetzten Gebietes.

    Andererseits ist Israel aber keine reine Besatzungsmacht, sondern hat im Laufe der letzten Jahrzehnte 700.000 Siedler unter anderem im Westjordanland völkerrechtswidrig angesiedelt.

    Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn

    "Auch gegenüber diesen Siedlern wird die einheimische Bevölkerung diskriminiert, wenn etwa bestimmte Straßen nur für Israelis geöffnet sind", sagt Talmon.
    Luc Walpot
    Die Anerkennung der Klage Südafrikas sei für Israel eine Niederlage, so ZDF-Korrespondent Luc Walpot. Das bedeute aber nicht, dass Israel eines Brechens der Konvention überführt wurde.26.01.2024 | 9:51 min

    Ab wann spricht man von Apartheid?

    Nicht jede solche Diskriminierung führt aber zu Apartheid. Entscheidend, so Völkerrechtler Stefan Talmon, sei der Zweck der Maßnahmen: Geht es um eine auf Rassentrennung und -Diskriminierung beruhende Herrschaft der Israelis über die palästinensische Bevölkerung und deren systematische Unterdrückung oder um Sicherheitsinteressen?
    "Es ist eine komplizierte Mischlage", bilanziert Talmon mit Blick auf die palästinensischen Gebiete - jede Maßnahme müsse einzeln bewertet werden.

    Der Teufel steckt im Detail, pauschal zu behaupten, Israel betreibe Apartheid, wird der komplexen Lage nicht gerecht.

    Stefan Talmon, Professor für Völkerrecht an der Universität Bonn

    Ob der Internationale Gerichtshof explizit auf den Apartheid-Vorwurf eingeht, wenn er sein Gutachten vorlegt, ist offen. Bis der Gerichtshof zu einer Entscheidung kommt, dürfte es noch Monate oder gar Jahre dauern.
    Samuel Kirsch ist Teil der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.

    Eskalation in Nahost
    :Aktuelle News zur Lage in Israel

    Durch den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober auf Israel eskalierte die Lage in Nahost. Nun ist auch der Iran an der Eskalation beteiligt. Aktuelle Entwicklungen im Liveblog.
    Israelische Soldaten in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen im Süden Israels, aufgenommen am 12.03.2024
    Liveblog

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